100 Jahre anderes Radio
Kaum ein Begriff ist so zentral für die bürgerliche Gesellschaft wie jener der Öffentlichkeit. Der Begriff der Demokratie bezeichnet einerseits die Herrschaft des Volkes, impliziert aber auch das Zeigen, die Transparenz, die Öffentlichkeit. Der Pathos der Gleichheit, mit dem sich bürgerliche Öffentlichkeit legitimiert, abstrahiert von der realen Ungleichheit. Dieser Widerspruch wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Öffentlichkeit selbst von Marktmechanismen bestimmt wird, von privatwirtschaftlichen Akteuren bespielt wird und damit selbst in ein System von ökonomischen Abhängigkeiten und Ungleichheiten verstrickt ist. Öffentlichkeit ist nicht so voraussetzungslos, wie es im bürgerlichen Selbstverständnis erscheint.
Aus diesem Grund haben gesellschaftliche Gruppen und soziale Bewegungen, die aus der herrschenden Öffentlichkeit ausgeschlossen waren, immer wieder versucht, Ansätze von Gegenöffentlichkeit zu etablieren. Arbeiter:innen, Frauen, von der Norm Abweichende, Dissidenten und andere, deren Erfahrung in der etablierten öffentlichen Sprache keinen Ausdruck finden konnte, schufen sich eigene Formen der Öffentlichkeit, um sich untereinander zu verständigen, Räume für die Reflexion der eigenen Erfahrungen zu ermöglichen und Kritik artikulieren zu können. Doch auch diese Versuche sind von Widersprüchen bestimmt. Sie entwickelten vor allem im Zuge ihrer Institutionalisierung eigene Formen von Schwerfälligkeit und Ausschluss, wollten sie nicht als kurzfristig-situative Äußerung von Protest schnell wieder untergehen.
Die neue Ausgabe des Magazins „Kunst Spektakel & Revolution“ widmet sich den Begriffen von Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit. In einer Gesprächsrunde mit an der Ausgabe Beteiligten soll das Heft vorgestellt werden. Dabei wollen wir mehrere historische Beispiele ins Gespräch bringen: Die Arbeiter Illustrierte Zeitung (AIZ) als ein Beispiel „proletarischer Öffentlichkeit“ in der Weimarer Republik, die Arbeiter-Radiobewegung der ’20er und ’30er Jahre, illegale Radioprojekte kurz nach 1989 und der heutige Zustand Freier Radios.
Die Veranstaltung ist Teil der überregionalen Veranstaltungs- und Sendereihe „100 Jahre anderes Radio“ und findet in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen statt.