Die braune Saat
Lesung & Diskussion mit Harry Waibel veranstaltet von der gruppe polar im Rahmen der Veranstaltungsreihe Was heisst hier Siegerjustiz?
Antisemitismus und Neonazismus in der DDR
Die aktuelle, rassistische Gewalt, sowie die der Nachwendejahre im Osten der Bundesrepublik ist nicht vom Himmel gefallen. Gestützt auf Unterlagen des Ministeriums für Staatsicherheit der DDR weist Harry Waibel nach, dass antisemitische Vorfälle, nationalsozialistische Verherrlichung und pogromartige Angriffe bereits vor 1989 zunahmen, die SED Führung vor diesen Phänomen jedoch die Augen verschloss.
Seit der Vereinigung gab es in den neuen Bundesländern ─ relativ zur Zahl der Bevölkerung ─ 2- bis -mal mehr rechte Propaganda- und Gewalttaten als im Westen. Ein Phänomen, das nicht zuletzt auf eklatante Defizite des DDR-Systems zurückgeht. Die SED hatte einen Antifaschismus etabliert, der gegenüber dem sich immer bedrohlicher ausweitenden antisemitischen und neonazistischen Phänomen die Augen verschloss und den latenten und manifesten Antisemitismus durch die Ideologie des Antizionismus vertuschte. Hinzu kommt, dass Entnazifizierung in der SBZ/DDR ─ ähnlich wie in Westdeutschland ─ oberflächlich war und zu schnell abgebrochen wurde.
Harry Waibel belegt diese und weitere Defizite anhand von etwa 7.000 mündlichen oder schriftlichen Angriffen von Neonazis bzw. Antisemiten in der DDR und propagandistischen Verherrlichungen des nationalsozialistischen Groß-Deutschlands. Hinzu kommen etliche Schmierereien von Hakenkreuzen und SS-Runen auf Straßen, Plätzen und an Gebäuden sowie über 900 antisemitische Vorfälle. Seit den 1960er Jahren fanden etwa 200 Pogrome bzw. pogromartige Angriffe in über 110 Städten und Gemeinden der DDR statt.
Die vorwiegend männlichen Akteure sind, entweder als individuelle Täter oder in Gruppen, auf allen gesellschaftlichen Ebenen, so in den meisten Schulformen und unter den jungen Arbeitern zu finden. Zu den Neonazis gesellten sich ab Ende der 1970er Jahre Skinheads. Zu ihnen stießen gewaltbereite Fußball-Anhänger, die so genannte Hooligans.
Zusammen mit den Skinheads entwickelten sie eine öffentliche, schlagkräftige Militanz, die in den politisch motivierten Straßenschlachten gegen die Sicherheitskräfte sichtbar wurde. Der Neonazismus in der DDR bestand aus mehreren Elementen und war ab Mitte der 1980er Jahre für die SED nicht mehr zu beherrschen.
Die Informationen zum Buch stammen großteils aus bisher nicht gesichteten Materialien aus den Archiven des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Ministeriums für Staatsicherheit, der ehemaligen DDR (BStU), die in der Regel als «geheim» deklariert waren.
Harry Waibel, geboren 1946 in Lörrach, lebt in Berlin. Er promovierte 1996 am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin bei Wolfgang Benz und Reinhard Rürup, Coach für wissenschaftliche Abschlussarbeiten und Lehrbauftragter an der Freien Universität Berlin. Bisher erschienen: «Rechtsextremisten in der DDR bis 1989» (1996), «Diener vieler Herren – Ehemalige NS-Funktionäre in der SBZ/DDR» (2011), «Rassisten in Deutschland» (2012), «Der gescheiterte Antifaschismus der SED – Rassismus in der DDR» (2014). Ferner: Aufsätze u.a. in «Zeitschrift antirassistischer Gruppen (ZAG)», «Hintergrund. Zeitschrift für kritische Gesellschaftstheorie und Politik», «Jungle World», «Exit-Deutschland», «Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat».